Brodnig - Der unsichtbare Mensche
Aus Leowiki
- "In Wahrheit ist aber auch die Klarnamendebatte nur ein Stellvertreterkrieg: Im Kern geht es darum, wie wir das menschliche Miteinander in digitalen Zeiten regeln wollen, wie wir ein Mindestmaß an Respekt wahren können." (S. 9)
- "Eine der spannendsten Zukunftsfragen lautet daher: Wie können wir online Signale einbauen, die herkömmliche nonverbale Gesten ersetzen, und somit Menschen ermutigen, freundlicher auf ihr Gegenüber einzugehen?" (S. 12)
- "Hass hat eine extrem ansteckende Wirkung" (S. 12)
- "Anonymität kann auch als Waffe dienen oder als Mittel des Schwachen, um sich Gehör zu schaffen." (S. 17)
- "Die Kehrseite davon ist aber eine Art digitale Hexenjagd. Diese ist insbesondere in jenen Ländern zu beobachten, in denen der Staat seine Bürger nicht vor fiesen Attacken anderer Bürger beschützt." (S. 20) >> wie soll der Staat seine Bürger vor "fiesen Attacken anderer Bürger" schützen? Ist das wirklich so?
- Brodnig unterscheidet Anonymität im Netz als Unsichtbarkeit von sichtbarer Anonymität wie zum Beispiel in der Straßenbahn und stellt die These auf, dass nicht die Anonymität das Kernproblem der Aggressivität im Netz ist, sondern das Gefühl der Unsichtbarkeit:
- "Weil die Kommunikation oft so konsequenzenlos und der Gesprächspartner fern scheint, werden viele Aussagen unachtsam hingeschleudert, und etliche User neigen zu einer harscheren, enthemmteren Sprache. Es ist fast so, als hätten sie das Gefühl, der Ring des Gyges stecke an ihrem Finger. Übrigens ein großer Trugschluss: So anonym sind wir Internetuser meist gar nicht." (S. 21)
- "Das ist der Grund, warum die Klarnamendebatte mit so viel Leidenschaft und Vehemenz geführt wird, geht es doch dabei um das Miteinander und um die Machtverhältnisse zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat." (S. 28)
`Im ersten Teil ihres Buches schafft es Brodnig an Hand des Beispiels es chinesischen Dissidenten Michael Anti, dessen "echter" Name Zhao Jing" lautet, sehr gut in die verschiedenen Facetten der Debatte um Anonymität, Identität, Pseudonymität und Klarnamenszwang einzuführen: Während die Universität Harvard ein offizielles Zeugnis auf den Namen "Michael Anti" ausstellt und auch Twitter diesen Namen "verifizierte", sah Facebook sein Klarnamensgebot verletzt. Vor allem der Vergleich zwischen Facebook und Twitter, so Brodnig, "macht deutlich, dass Websites und ihre Programmierer eine ungeheure Macht haben. Sie legen fest, welche Form von menschlicher Interaktion sie erlauben" (S.29).
- Gleichzeitig gibt es aber auch Grade von Anonymität im Netz, die noch dazu oft trügerisch ist - und zwar nicht nur weil Geheimdienste mit Hilfe von "Big Data" aus verteilt-anonymisierten Daten auf Einzelpersonen zurückschließen können. Viele Schreiber von Hassmails und -kommentaren unterschätzen, wie einfach sie auf Grund ihrer Mailadresse oder des verwendeten Pseudonyms identifizierbar sind. Auch für diesen Umstand, dass Menschen zwar relativ leicht identifizierbar sind, sich aber dennoch verhalten, als wären sie komplett anonym, erklärt Brodnig mit einem "Gefühl der Unsichtbarkeit" (S. 74).
- "Neue Gesetze, die die digitale Kommunikation regeln sollen, sind oft unausgewogen. Während die Interessen von Geheimdiensten, Polizeibehörden oder Internetfirmen willfährig berücksichtigt werden, werden die Rechte der Bürger vernachlässigt. Der Netzbevölkerung fehlt es an einer starken Lobby, die auch auf die Einhaltung der Bürgerrechte im Netz pocht." (S. 37)
- Sehr eindrücklich auch Brodnigs Beschreibung der Vorratsdatenspeicherung, die in Österreich ja bereits Gesetzesrealität ist: "Die Vorratsdatenspeicherung ist so umstritten, weil sie eine pauschale Datenspeicherung darstellt. Man stelle sich vor, es gäbe ein ähnliches Überwachungssystem im Straßenverkehr und Nummerntafeln würden einer ebenso strengen Kontrolle unterliegen. In diesem Fall würde der Staat von den Autoversicherungen verlangen, ein halbes Jahr lang aufzuzeichnen, wo sich welches Auto wann befunden hat. Auch hier würden nicht die Inhaltsdaten gespeichert (also, was die Person in dem Fahrzeug getan hat, wer neben ihr saß), trotzdem entstünde ein genaues Protokoll der Verbindungsdaten, also der gesamten Bewegung des Autos. Nie im Leben würden es die Politiker wagen, ein derartiges Gesetz für den Straßenverkehr zu erlassen!" (S 42f.)
- Brodnig stellt auch Bezüge zwischen Anonymität und den Snowden-Enthüllungen her:
- "Was unsere Anonymität im Netz betrifft, sind all diese Dinge deswegen Quelle von Unbehagen, weil man als User gar nicht richtig einschätzen kann, ob man denn anonym ist, inwiefern alle Aktionen im Rahmen einer riesigen digitalen Rasterfahndung erfasst werden." (S. 49)
- Schon im Untertitel ihres Buches - "Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert" - macht Brodnig klar, dass die Frage von Anonymität im Internet für sie keine ist, die nur die Online-Sphäre betrifft; vielmehr geht sie von einem Verschmelzen von Online- und Offline-Identität aus und fundiert so ihre Forderung nach stärkerem Grundrechtschutz im digitalen Bereich:
- "Unser Leben findet immer mehr im digitalen Bereich statt, auch im digitalen Umfeld müssen Grundrechte gelten. Vor hundert Jahren haben die Menschen Briefe geschrieben, heute schreiben sie E-Mails. Warum sollte das Briefgeheimnis nicht auch für E-Mails gelten? […] Wird die Anonymität im Internet von Staaten und ihren Geheimdiensten eingeschränkt, wirkt sich das freilich auf dieses Machtverhältnis zwischen der Regierung und ihrer Bevölkerung aus." (S. 51f.)
- "Das Internet wird so allgegenwärtig wie Elektrizität" (S. 54)
- Im Ergebnis plädiert Brodnig zwar für einen "Interessenabgleich" und ist der Meinung, dass Anonymität nicht in jedem Fall vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sein sollte. So wendet sie sich beispielweise gegen die Verharmlosung der Nutzung von Anonymisierungsdiensten im Kontext von dokumentiertem Kindesmissbrauch:
- "In Teilen der Netzcommunity gibt es diese Tendenz. Sie haben recht mit ihrer Behauptung, dass Kinderpornografie von Politikern gern als Ausrede verwendet wird, um generell härtere Überwachungsgesetze einzuführen; aber es ist auch gefährlich, Kinderpornografie zu verharmlosen und nicht ernst zu nehmen, wie furchtbar die Verbreitung von derartigem Material ist." (S. 99)
- Im Bereich des Journalismus und des Informantenschutzes tritt sie dann aber doch für absoluten Schutz von Anonymität ein. Interessant ist dabei Brodnigs Journalismus-Definition, die auf die Tätigkeit und nicht das Medium oder die Bezeichnung als "Journalist" abstellt. Die entscheidende Frage für weitgehenden Schutz von Anonymität auch vor staatsanwaltlichem Zugriff ist demnach ob eine Person Inhalte publiziert, und Dinge aufdeckt, die für die Öffentlichkeit relevant sind.
- Im Bereich von Kommentaren in Blogs und Zeitungsforen hilft diese Unterscheidung aber nur bedingt weiter. Während veröffentlichte Leserbriefe unter das Redaktionsgeheimnis fallen, ist das bei anonymen Forenkommentaren keineswegs eindeutig. Interessant in diesem Zusammenhang der Verweis auf die interne Richtlinie der österreichischen Zeitung "Der Standard", wonach diese sich nur in solchen Fällen auf das Redaktionsgeheimnis beruft, in denen der Poster nach Ansicht der Redaktion die Forenregeln eingehalten hast.
- Jenseits von der Frage, inwieweit die Autorennamen von Online-Kommentaren unter ein Redaktionsgeheimnis fallen fragt Brodnig im vierten Kapitel nach den allgemeinen Auswirkungen auf öffentliche Debatten und widmet sich dafür dem Beispiel der besonders im Internet sehr lauten "Antifeministen" bzw. "Maskulinisten", die Anonymität - ähnlich wie das im Kapitel davor beschriebene Kollektiv "Anonymous" - auch zur Simulation von Größe nutzen. In diesem Zusammenhang treibt Brodnig die mit wissenschaftlichen Studien begründete Sorge um, dass eine Minderheit radikaler Stimmen den Rest übertonen, das Klima vergiften und "Hass-Postings tatsächlich den Hass nähren" (S. 33) können.
- Ganz allgemein ist der Teil über Anonymität von Postern in Zeitungsforen einer der spannendsten des ganzen Buches - man merkt einfach, dass diesem Abschnitt intensive Recherche und Gespräche mit vielen Kampfpostern zu Grunde liegen.
- Zur Erklärung von Meinungsexzessen in Online-Kommentaren verweist Brodnig auf das Konzept der "toxischen Enthemmung" des US-Psychologen John Suler, das sich in fünf Bausteine gliedert:
- 1. Anonymität in Form von Pseudonymität, die eine Trennung zwischen Online- und Offline-Person ermöglicht.
- 2. Unsichtbarkeit der Online-Gesprächspartner und deren (nonverbale) Reaktionen auf Kränkungen
- 3. Asynchronität, also das Fehlen von unmittelbarem Feedback mti der Möglichkeit zu "emotionalem Hit-and-Run"
- 4. Solipsistische Introjektion, eine Art Fantasievorstellung des Gegenübers
- 5. Vorstellungskraft, die eine gedankliche Trennung zwischen Spiel und Alltag ermöglicht.
- 6. Fehlende Autorität, die außerhalb des Netzes sowohl formalen (z.B. Vorgesetzte) oder informalen (z.B. Kleidung, Körpersprache) Ursprungs sein kann.
- Zur Illustration verweist Brodnig außerdem auf ein YouTube-Video (http://www.youtube.com/watch?v=UMpgVRCm9d4, siehe Embed), das sich humoristisch mit Enthemmung in Onlineforen auseinandersetzt und bezeichnet Sulers Ansatz als kompliziertere Fassung der "Greater Internet Fuckwad Theory":
- "Normale Person + Anonymität + Publikum = totale Arschgeige" (S. 69)
- Problematischer als in Online-Foren kann dieser Effekt vor allem dann sein, wenn dadurch ein Cybermob entsteht, der auf digitale Menschenjagd geht. Auch dafür liefert Brodnig eine Reihe anschaulicher Beispiele dafür, wie unverhältnismäßig sich die Wut ganzer Horden (vermeintlich) anonymer Verfolger an Einzelnen entladen. Mit Viktor Mayer-Schönberger, der auch ein Vorwort für das Buch verfasst hat, kritisiert sie "wie unbarmherzig eine Gesellschaft werden kann, die nichts vergisst." (S. 82)
- Ein weiterer Unterabschnitt widmet sich dem Phänomen des Trollens, wo unter anderem erklärt wird, dass der Begriff wahrscheinlich weniger mit dem Sagenwesen sondern mehr mit Anglersprache zu tun hat:
- "Fischer kennen die Methode, einen Köder auf ihre Angel zu spannen und mit dem Motorboot langsam durch ein Gewässer zu fahren. Die Raubfische sehen den Köder davonschwimmen und schnappen zu – prompt hängen sie am Haken. Im Englischen heißt diese Technik »Trolling«, im Deutschen »Schleppfischen«. Auch der Internettroll wirft einen Köder aus, nur will er keine Fische, sondern andere Internetuser an die Angel kriegen. Trolle amüsiert die Aufregung der anderen. Sie sehen es als Beweis ihrer eigenen emotionalen und kognitiven Erhabenheit, wenn sie bei anderen Wut, Verwirrung oder Trauer auslösen."
- Das Hauptproblem von Trollen ist aber, dass diese sich genau auf jenen Wert berufen, der auch Anonymität und Pseudonyme rechtfertigen kann: die Meinungsfreiheit. Leider bleibt die Darstellung des Trolling-Themas etwas einseitig und Brodnig geht nicht auf jüngere Debatten (z.B. rund um die Trollcon) eingegangen, die auch positive Seiten des Trollens identifizieren. Diesbezüglich lohnt es also vielleicht, auf das seit einiger Zeit angekündigte Buch von Julia Seeliger zu warten.
- Ein Schönheitsfehler ist auch die Diskussion des Falls Wikipedia, den Brodnig fast ausschließlich als Positivbeispiel für die Kraft anonymer Beiträge anführt. Gerade die Wikipedia kämpft aber genauso mit Trollen, mit mangelnder Vielfalt unter den Beitragenden sowie durch Anonymität erleichterte Manipulationen aus PR-Interessen. Gerade auch Wikipedia hätte sich als Beispiel für Ambivalenz von Anonymität im Internet geeignet - mehr noch, Brodnigs Analyse liefert einige Denkanstöße für laufende Diskussionen, wie sich z.B. der Anteil von weiblichen Autoren in der Wikipedia erhöhen lässt.
- So schlägt Brodnig vor, persönliche Verantwortung auch online einzufordern und meint, dass das auch mit Anonymität gelingen kann. Denn die Anonymität im Netz bringe keineswegs die "wahre Natur" des Menschen zum Vorschein, so Brodnig, sondern das Verhalten hänge sehr stark von den jeweiligen Rahmenbedingungen ab. Konsequenterweise widmet sie ein ganzes Kapitel ihres Buches der Fragestellung "wie man online gegenseitigen Respekt fördert" (S. 138) - und zwar ohne die Südkorea zeitweilig von Seiten des Staates verordnete Realnamenspflicht einzuführen (eine Maßnahme die das Ziel eines respektvolleren Umgangs im Internet übrigens keineswegs erreichte und schließlich als verfassungswidrig wieder aufgehoben wurde).
- Jenseits staatlich verordneter Klarnamenspflicht sorgt aber bereits die Möglichkeit sich mittels Social-Media-Profil auf einer Seite zu registrieren für zivilisierteren Umgang (siehe Abbildung). Auch Asymmetrie bei der Gestaltung von Interaktionsmöglichkeiten auf Online-Plattformen kann zu einem respektvolleren Klima beitragen und ist wohl einer der Gründe, warum es auf Facebook nur einen "Like" und keinen "Disklike"-Button gibt. Als ein weiteres positives Beispiel für den Umgang mit Anonymität führt Brodnig die klaren Richtlinien und transparent begründeten Löschungen von "Zeit Online" an, wo nach Schätzungen eines Community-Managers bei wirtschaftlichen und politischen Themen jeder fünfte Kommentar gelöscht oder gekürzt wird. Gleichzeitig werden besonders originelle Kommentare als Empfehlung der Redaktion hervorgehoben. Letzteres ist Brodnig zu Folge ein bislang noch viel zu wenig genutzte Strategie zur Verbesserung des Diskussionsklimas:
- "Entscheidend ist, nicht ständig nur die fiesen Postings zu beachten, sondern die guten Beiträge und Diskussionen aktiv hervorzuheben."
- Und tatsächlich dürfte es für eine Verbesserung des Diskussionsklimas eben auch darum gehen, nicht nur Trolle zu ignorieren und Hasskommentare zu löschen, sondern wertvolle Beiträge sichtbarer zu machen. In dieser Hinsicht könnten wir vielleicht auch bei netzpolitik.org noch nachlegen.